Stellen Sie sich vor, Sie gehen mit Ihren Arbeitskollegen zum Mittagessen. Wie immer bestellt die junge Teamassistentin einen gemischten Salat mit knackigem Gemüse. Der Kollege aus der Buchhaltung bestellt ein Wiener Schnitzel mit Pommes, der Praktikant Spaghetti Bolognese. Aus einer Laune heraus bestellen Sie das 400g Lendensteak medium rare und verzichten auf die Beilage. Während der Kellner noch einmal sicherstellt, dass bei Ihrer Bestellung auch kein Irrtum vorliegt, ernten Sie verdutzte Blicke von Ihren Kollegen.
Denn übermäßiger Fleischkonsum ist aus der Mode gekommen. Nicht nur schaden Wurst und Steak der Umwelt, wie erst jüngst wieder eine Aktion des Lebensmittelkonzerns Penny zeigen sollte. Wer übermäßig rotes Fleisch isst, so glauben die meisten, der stribt früher. Dass sich diese Ansicht so hartnäckig hält, hat man vor allem der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zu verdanken. Denn diese machte Schlagzeilen als sie rotes, unverarbeitetes Fleisch 2015 als Karzinogen zweiten Grades einstufte.
Durch die 2015er Steilvorlage der WHO hat sich auch unsere Medienlandschaft ohne zu zögern auf die Fleischkritik eingeschossen. So schaffte es allein die Süddeutsche Zeitung im gleichen Jahr auf mehr als 5 Artikel, bei denen es Steak und Lammkoteletts an den Kragen geht. Im Gleichschritt folgten auch alle anderen deutschen Tageszeitungen und Medienoutlets mit ähnlich desaströser Berichterstattung.
Aber wie sieht die Faktenlage zum roten Fleisch in 2023 aus? Steht denn wirklich eindeutig fest, dass rotes Fleisch krebserregend ist? Wir haben uns für Sie einen Überblick zum Thema Fleisch und Krebs verschafft - mit überraschendem Ergebnis.
Warum wurden Fleisch und Wurst als krebserregend eingestuft?
“Wurst und Fleisch als krebserregend eingestuft” titelte die FAZ im Oktober 2015. Alle großen Tageszeitungen nehmen Stellung zum Bericht der Internationalen Agentur für Krebsforschung (IARC), einer Einrichtung der WHO. Was viele immer schon ahnten, scheint sich 2015 bewahrheitet zu haben. Rotes Fleisch ist nicht nur ungesund, sondern höchstwahrscheinlich auch krebserregend.
Zu diesem Ergebnis kamen die Forscher der IARC nach der Analyse von 800 Studien, die mögliche Verbindungen zwischen dem Verzehr von rotem Fleisch oder verarbeitetem Fleisch und unterschiedlichen Krebserkrankungen gesucht haben. Dabei stellte ein Team aus 22 Wissenschaftlern aus 10 verschiedenen Ländern fest, dass das Darmkrebsrisiko für je 100 g täglich verzehrtem rotes Fleisch um 17% Prozent zunimmt. Beim Verzehr von Fleischwaren wie Wurst oder Schinken führen dagegen schon 50 g pro Tag zu einem 18% erhöhten Darmkrebsrisiko. Im Bericht selbst werden Fleischwaren als Karzinogen der Gruppe 1 eingestuft. Eine Kategorie, in der sich auch Tabakrauchen, Arsen und Formaldehyd wiederfinden. Rotes Fleisch, so schreibt der Bericht, ist „wahrscheinlich karzinogen für den Menschen“. Aber worauf genau basiert diese Einstufung?
Untersucht man den ausführlichen Bericht der IARC aus dem Jahr 2018, so wird ersichtlich, dass von den ursprünglich 800 Studien nur 14 in die finale Betrachtung miteinbezogen wurden. Das sind 1,75 %. Bei den 14 Studien handelte es sich ausschließlich um Korrelationsstudien, von denen 8 keinen Zusammenhang zwischen rotem Fleischkonsum und Darmkrebs zeigten. Von den verbleibenden 6 Studien zeigte nur eine Studie einen statistisch signifikanten, also nicht dem Zufall geschuldeten Zusammenhang.
Lassen wir uns das nochmal auf der Zunge zergehen: Von den im 2015er Bericht erwähnten 800 Studien wurden nur 14 für Ergebnis und Empfehlung berücksichtigt. Alle 14 Studien sind nicht-experimenteller Natur und nur bei einer der 14 Studien fand sich eine signifikante Korrelation zwischen Fleischkonsum und Darmkrebs!
Der Healthy-User-Bias
Bei dieser einen Studie wurde die Population der „Seven-Day-Adventists“ untersucht. Dabei handelt es sich um eine religiöse Gruppierung aus Kalifornien, die einen gesunden Lebensstil propagiert und auf den Konsum von Nahrungsmitteln tierischen Ursprungs, Alkohol- und Tabak verzichten. Es bleibt also mehr als fraglich, ob der Verzicht auf Fleisch das Darmkrebsrisiko in dieser Population verringert oder andere gesundheitsfördernde Verhaltensweisen das Ergebnis beeinflussen. In der Epidemiologie spricht man von einem „Healthy-User-Bias“, also der Tatsache, dass besonders gesundheitsbewusste Menschen neben Ernährung auch andere Verhaltensweisen an den Tag legen, die sich positiv auf deren Gesundheitszustand auswirken. Wer sich gesundheitsbewusst ernährt, ist auch eher dazu geneigt
- aktuellen Ernährungsempfehlungen zu folgen
- nicht zu rauchen
- nicht zu trinken
- regelmäßig Sport zu treiben
- mehr Geld für gesundheitsfördernde Maßnahmen auszugeben
- häufiger einen Arzt zu konsultieren
Außerdem gaben die Autoren der Studie zu verstehen, dass der Zusammenhang von rotem Fleisch und Darmkrebs sich überproportional stark bei fettleibigen Personen zeigte. Also Personengruppen mit anderen Risikofaktoren (wie Diabetes oder Insulinresistenz), von denen man weiß, dass diese zu einem erhöhten Krebsrisiko führen .
Stellen Sie sich kurz das Gegenteil eines gesundheitsbewussten Menschen vor. Vielleicht denken Sie an einen Bau- oder Schichtarbeiter, bei dem jeden Tag Currywurst oder Döner auf der Speisekarte steht. Würde eine Studie zu dem Ergebnis kommen, dass Bauarbeiter eine 15% niedrigere Lebenserwartung verglichen mit der Allgemeinbevölkerung aufweisen, würden Sie dann der Currywurst die Schuld in die Schuhe schieben? Oder könnte es vielleicht sein, dass Bauarbeiter im Durchschnitt
häufiger rauchen?
mehr Alkohol trinken?
Arzt- oder Vorsorgeuntersuchungen häufiger meiden?
sich länger ungeschützt in der prallen Mittagssonne aufhalten?
Könnten Sie als Studienleiter guten Gewissens verkünden, dass täglicher Currywurstkonsum die Lebenserwartung von Bauarbeitern um 15% verkürzt und das womöglich noch auf eine andere Population wie Büroarbeiter generalisieren? Wohl kaum.
Denn durch epidemiologische Korrelationsstudien lässt sich die Frage weder beantworten, noch lässt ein Ergebnis Rückschlüsse auf andere Populationen zu. Korrelationen liefern erste Hinweise auf einen mechanistischen Zusammenhang, der mit Hilfe von Interventionsstudien überprüft werden sollte.
Stellen Sie sich vor, wir unterteilen die Bauarbeiter unserer fiktiven Interventionsstudie zufällig in zwei Gruppen:
Gruppe 1: Täglicher Currywurstkonsum für 10 Jahre
Gruppe 2: Täglicher veganer Currywurstkonsum für 10 Jahre
Nach 10 Jahren wird Bilanz gezogen und das Auftreten von Darmkrebs in beiden Gruppen miteinander verglichen. Da die einzelnen Bauarbeiter zufällig Gruppe 1 oder 2 zugeordnet wurden, kann bei entsprechender Kohortengröße angenommen werden, dass gesunde und ungesunde Verhaltensweisen in beiden Gruppen in etwa gleich häufig vorliegen. Es könnte somit eine eindeutige Aussage über den Zusammenhang zwischen Currywurstkonsum und Darmkrebshäufigkeit bei Bauarbeitern getroffen werden.
In der Realität wäre diese Studie mit enormen Kosten verbunden, da sich das Interesse von Universitäten, Forschungseinrichtungen oder Currywurstherstellern sich wohl in Grenzen halten dürfte. Ferner wäre es schwierig, genügend freiwillige Bauarbeiter zu finden, die sich einer solch rigorosen Intervention (tägliches Essen einer veganen Currywurst!) unterziehen würden.
Daher bieten Interventionsstudien in der Ernährungswissenschaft eine höhere diagnostische Objektivität, da bestimmte Einflussfaktoren (Störvariablen) wie der Healthy-User-Bias neutralisiert werden können, sind allerdings mit weitaus höheren Kosten verbunden und oft stark eingeschränkt, was die Stichprobengrösse (Anzahl an Studienteilnehmer) angeht.
Unter den 784 Studien, die vom IARC Bericht nicht berücksichtigt wurden, fanden sich eine Vielzahl von empirischen Studien mit enormen Stichprobengrößen, die keine Korrelation zwischen Fleischkonsum und Darmkrebs finden konnten. So fand eine Studie mit über 200,000 Asiaten, deren Essgewohnheiten über 10 Jahre festgehalten wurden, niedrigere Sterblichkeitsraten (Krebs- und Herzkreislauferkrankungen) für Männer und Frauen mit dem höchsten Fleischkonsum.
Eine Studie aus England mit über 60,000 Vegetariern und Nicht-Vegetariern kam zu dem Ergebnis, dass Vegetarier ein erhöhtes Darmkrebsrisiko aufwiesen. Ferner ignorierte der Bericht alle Interventionsstudien mit Tieren, die keinen Zusammenhang zwischen Darmkrebs und Fleischkonsum feststellen konnten.
Natürlich wissen wir mittlerweile, dass Korrelation nicht Kausalität bedeutet und wir wissen auch, dass Ergebnisse in Tierversuchen lediglich als erster Anhaltspunkt für zukünftige Interventionsstudien verstanden werden sollten.
Vielleicht fragen Sie sich jetzt „Ist rotes Fleisch jetzt doch nicht so ungesund?“. Ich würde es Ihnen nicht verübeln, denn genau diese Frage stellte der Tagesspiegel seinen Lesern im September 2019, als eine Gruppe von Forschern eine Studie veröffentlichte, die die Ergebnisse des IARC Berichts in Frage stellte. Dabei analysierten die Forscher 12 klinische Interventionsstudien (von den insgesamt 800 Studien des Berichts) mit insgesamt 54,000 Teilnehmern und kamen zu dem Entschluss, dass ein gezügelter Fleischkonsum das Auftreten und die Sterblichkeitsraten von Krebs und Herzkreislauferkrankungen nicht verringert.
„These recommendations are, however, primarily based on observational studies that are at high risk for confounding and thus are limited in establishing causal inferences, nor do they report the absolute magnitude of any possible effects.“
Besonders kritisch sah das Expertenpanel die Tatsache, dass die Einstufung von Fleisch im IARC Bericht auf Beobachtungsstudien basiert, die nur eine eingeschränkte Aussage über die Kausalität der Korrelation liefern und anfällig für Störvariablen, insbesondere den Healthy-User-Bias, sind.
Es gibt daher keinen gesundheitlichen Grund, den Konsum von unverarbeitetem, rotem Fleisch einzuschränken, da eine Einschränkung im Fleischkonsum keine positive Auswirkung auf die Gesundheit hat.
Ich hoffe, wir konnten Ihnen mit diesem Artikel das ein oder andere Argument an die Hand geben, falls Sie beim nächsten Mittagessen von Ihren Kollegen angegangen werden. Der Verzicht auf rotes Fleisch reduziert weder das Auftreten von Krebs, noch senkt er das Risiko für Herzinfarkt. Rotes Fleisch steht zurecht seit Jahrmillionen ganz oben auf der menschlichen Speisekarte und hat uns erst homo sapiens werden lassen. Lassen Sie sich also nicht den Appetit auf ein saftiges Steak verderben!